Rechte der Natur – eine moderne Tugendfrage
Die Debatte um die Rechte der Natur wird oft als juristisches oder politisches Randthema wahrgenommen. Dabei berührt sie auch eine Vielzahl grundlegende Fragen. Dazu gehört auch die Tugendfrage: Wie wollen wir leben? Was ist ein gutes Leben im Angesicht einer verletzlichen Welt? Welches Verhältnis zur Natur ist unserer Würde als Menschen angemessen?
Schon in der griechischen und römischen Antike galt Maßhalten für viele Philosophen als eine zentrale Tugend.
Die Griechen sprachen von sōphrosynē – Besonnenheit, Selbstbegrenzung, Einklang mit der Ordnung des Kosmos.
Die Römer sprachen von temperantia – der Fähigkeit, sich selbst nicht zum Maß aller Dinge zu machen. (Wozu der Mensch der Neuzeit in hohem Maße geneigt ist).
Wer maßlos war, gals als töricht, weil er mit seiner Gier nicht nur andere, sondern sich selbst zerstört. Wer weise sein wollte, musste daher lernen, Grenzen zu achten, insbesondere jene der natürlichen Welt.
Und ist die Arbeit an den eigenen Grenzen, nicht schon Voraussetzung für Kunst gewesen?
Diese Idee ist heute aktueller denn je. In Zeiten von Klimakrise, Artensterben und Umweltzerfall wird klar: Was früher persönliche Tugend war, ist heute eine gesellschaftliche Überlebensfrage. Rechte der Natur sind ein zeitgemäßer Ausdruck dieser alten Weisheit. Sie zwingen uns, die Natur nicht länger als bloße Ressource zu betrachten, sondern als Mitwelt – als eigenständiges, verletzliches und schützenswertes Gegenüber.
Das hat nicht nur ökologische und ethische Dimensionen. Wer der Natur Rechte abspricht, erklärt sie zu etwas, das man grenzenlos benutzen, zerstören, verkaufen darf. Doch damit verrohen wir auch uns selbst.
Denn ein Mensch, der alles um sich herum entrechtet, verliert irgendwann auch das Gespür für das Nicht-Verfügbare im Menschen: Seine Würde.
Rechte der Natur erinnern uns daran, dass es Dinge gibt, die nicht uns gehören, sondern denen wir Rechenschaft schulden. Sie fordern von uns nicht Verzicht um des Verzichtes willen, sondern die Wiederentdeckung von Anstand im Anthropozän.
Maß halten ist dabei kein Rückschritt – sondern ein Fortschritt an innerer Reife.
Es geht also nicht nur um Flüsse, Wälder oder Tiere – es geht auch um unsere Haltung zur Welt. Um unser Menschenbild. Um unsere Fähigkeit zur Selbstbegrenzung als gelebte Freiheit.
In diesem Sinn sind die Rechte der Natur keine romantische Utopie, sondern eine ethisch notwendige Konsequenz aus dem, was wir zu wissen vorgeben: dass die Erde endlich ist. Und dass der Mensch nicht größer wird, indem er alles unterwirft – sondern indem er erkennt, wo sein Platz ist.