Der rechte Augenblick


Zeit hat keine Farbe. Wir können sie nicht sehen, nicht schmecken, nicht riechen und nicht festhalten. Unterschiedslos und ohne Erbarmen frisst Chronos seine Kinder. Zeit ist unumkehrbar. Es ist Kairos, der Gott des „jetzt oder nie“, der uns auffordert Gelegenheiten beim Schopfe zu ergreifen. Was zählt, ist der (rechte) Augenblick.

Mein Vater war ein deutscher Meister der Zeit. Er war REFA-Experte. Mit der Stoppuhr in der Hand zählte er, wie viele Minuten und Sekunden Mensch-Maschinen-Einheiten für die Herstellung eines Autoreifens verbrauchen. Gerade so, als ob Zeit ein knappes Gut sei.

Industrial Engineering nennt sich so etwas. Auf die Sekunde genau. So ist Deutschland reich geworden. Stückkosten senken, Effizienz steigern. Maximaler Output bei konstanter Qualitätsanforderungen dank kontinuierlichem Verbesserungsprozess. Niemals still stehen. Die Konkurrenz schläft nicht.

Standardisierung: Auf diesem Prinzip beruht jedwede industrielle Fertigung. Das Ganze der Arbeit wird in Arbeitsschritte unterteilt. Danach wird so viel Zeit und Arbeit gespart, wie möglich.

Schlank müssen die Prozesse sein. So schlank wie möglich. Rohstoffe, Energie und Transporte sind billig – nur der Mensch ist wirklich teuer. Deshalb möchte man ihn so ersetzbar wie möglich.

Am Ende des Weges winkt eine perfekte Welt. Tauben, die uns den Mund fliegen. Trauben, die uns in den Mund wachsen. Dinge, die alles ganz alleine können. Digitalisierung, artifizielle Intelligenz und Automation machen es möglich.

Roboter können in Zukunft fast alles billiger und besser als wir. Nur eines können sie voraussichtlich nicht: konsumieren.

Wer laufen lernen möchte, muss das Fallen üben.

Aber ganz so weit ist es noch nicht. Noch immer gibt es Menschen an Orten, die nach anderen Prinzipien funktionieren. Werkstätten, die dem Prinzip Industrie keine Chance geben.

Überall wo die Natur mitwirkt, haben wir nicht die Wahl, sondern müssen ihren Eigensinn respektieren.

Dem Teig zum Beispiele muss man seine Zeit geben. Das weiß jeder Bäcker. Nur dann wird das Brot und der Teig richtig gut.  Und jedes Mehl ist schließlich anders, selbst wenn es vom immer gleichen Schlag nebenan kommt und vom gleichen Müller vermalen wurde.

Der Teig also mach den Bäcker und schärft die Sinne. Den richtigen Augenblick abzupassen, braucht Erfahrung und den Mut zum Scheitern.

Wo Hefebakterien und Enzyme in den Backstuben die Choreografie vorgeben, kann Zeit nur ganz anders behandelt und optimiert werden und fordert unsere Sinne, unser Denken und Fühlen ganz. Mann muss den rechten Augenblick erkennen und beim Schopfe ergreifen.  Im Hier und Jetzt. Man muss auf „Qui Vive“ sein, würde man in Frankreich vielleicht sagen. Es ist der Augenblick höchster Wachsamkeit. Der Augenblick höchster Präsenz des Seins.

Wie sehr Gott (Kairos) in der Zeit wirkt, können wir auch bei der Herstellung und Lagerung von Käse oder Rotwein oder Branntwein beobachten, in guten Tischlereien, in der Töpferwerkstatt, beim Malen und Zeichnen oder dem Zimmermann.

Jeder Versuch, mit einer Käserei an einen anderen Ort zu gehen, um dort den gleichen Käste herzustellen, muss scheitern. Es ist nicht nur die Zeit, sondern auch der Ort, der den Käse macht. Und beide zusammen machen den Käser, die Käserin. Denn an keinem Ort der Welt sind die Bakterien, die den Käse erst ausmachen, dieselben. Echter Käse führt sein Leben lang ein Eigenleben. Nach drei Monaten ist der Greyerzer nicht mehr derselbe. Auch, wenn die Milch von der gleichen Alm kommt. Das gilt natürlich auch für den Rotwein und das Bier. Mutter Natur lebt in all diesen Dingen. Und später auch in uns. Oder bei der Holzproduktion.

Wer einen Baum bei Vollmond schlägt, hat später ein Holz in den Händen, das herausragende Eigenschaften hat. Jeder Baum, jedes Holz und jedes Brett ist ein bisschen anders, davon können erfahrene TischlerInnen und Zimmerleute ein Lied singen.

Die Exzellenzforschung lehrt uns: Alle Künste erfordern rund 10.000 Stunden Übung/Erfahrung. Erst dann sind wir in der Lage, Kairos auf der Höhe der Zeit zu begegnen, der Chance, mit Eleganz und Könnerschaft alles abzuverlangen und dem Besonderen auf die Welt zu helfen. Inspiration, Intuition und Imagination: So wird alles zu kunstvollem Können und manchmal auch zur Kunst.

Digitalisierung: Noch haben wir die Wahl. Ein bisschen jedenfalls. 

Und wir? Nicht trotz, sondern wegen der Vielfalt an Möglichkeiten, Angeboten und Diensten, die uns das Leben noch einfacher und noch angenehmer machen könnten (oder es uns auch gleich ganz ersparen), sind wir vor allem mit uns selbst beschäftigt. Alltag und die Arbeit fressen uns auf.

Nicht zwar nicht trotz, sondern wegen der Vergötterung von Effizienz und unserem wahnsinnigen Besserwahn. Als Energieoptimierer haben wir Menschen es am liebsten bequem. Das gilt auch fürs Denken. Fernsehköche ersparen uns das selber Kochen. Das Handy kauft für uns im Supermarkt ein, fährt die Heizung hoch und lässt die Rollläden runter. Falls Sie dabei das Gefühl haben, irgendetwas zu beherrschen oder im Griff zu haben, darf ich Ihnen versichern: Das Gegenteil ist der Fall. Ohne Strom und ohne Geld geht nichts mehr. Es ist ein ständiger Fluss der Selbst-Entmächtigung, der wir uns überantworten.



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert