Manchmal kommt es mir vor, als säße ich in einem Zug, der mit großer Geschwindigkeit auf ein unbekanntes Ziel rast. Ich schaue interessiert aus dem Fenster und sehe, wie die Landschaft an mir vorüberzieht. Manches kommt mir bekannt vor. Anderes ist mir fremd. Manchmal schlägt mein Herz höher. Manche Dinge sind mir so fremd, dass ich sie nicht einmal erkennen kann. Sie erinnern mich an gar nichts. Ich weiß nicht mehr, wie ich in diesen Zug hineingekommen bin. Aber ich erinnere mich an den Augenblick, an dem mir bewusst wurde, dass ich aus diesem Zug nicht mehr aussteigen kann. Und dass ich mir die Mitreisenden nicht ausgesucht habe.
Sie sind meine Zeitgenossen.
Wir haben (nur) einander.
Wir haben nicht die Wahl.
Nicht einmal der Zeitpunkt des Ausstiegs ist frei-willig.
Mein Vater ist jetzt nach langen Jahren am Ende seiner Reise angekommen. Er hat kein Bewusstsein mehr von Zeit. Er ist immer im Hier und Jetzt.
Seine Lebensreise ist er in den letzten Jahren rückwärts gegangen, hat «entlernt». So etwas nennt man Demenz und es kann jedem widerfahren.
Vorausgesetzt, wir werden alt genug.
Ich gehe diesen Weg seit einem Jahr mit ihm und es ist eine sehr bewegende Erfahrung. Denn ich habe das Gefühl, dass dieser letzte Abschnitt unserer geteilten Lebensreise mich stark verändert.
Wir machen auf unserer Lebensreise viele existenzielle Erfahrungen. Die Liebe gehört sicher dazu. Sie berührt und verändert uns in unserem tiefsten Wesen. Denn unsere Existenz verdanken wir der Sehnsucht des Lebens nach dem Leben.
Von unseren Eltern lernen wir in den ersten Wochen, Monaten, Jahren, was uns zu mitfühlenden und sozialen Wesen macht. Von ihnen erwerben wir auch ein Bild, Mutter oder Vater zu sein.
Doch wir sind es dann noch nicht.
Zu echten Müttern und Vätern machen uns unsere Kinder. Von ihnen lernen wir das Eltern-Sein. Erst sie bringen diese Fähigkeiten, die in uns schlummern, zum Blühen.
So werden wir auch ein zweites Mal Kind und ein zweites Mal Mensch.
Unsere Kinder sind unsere Spiegel. Was wir ihnen nicht geben konnten, wird ihnen fehlen. Was wir falsch gemacht haben, wird sie prägen und uns noch lange beschäftigen.
Jetzt – da meine Kinder groß sind – und mein Vater zum Kind wurde, lerne ich noch einmal viel über mich und über das Ende dieser Reise. Wenn ich meinem Vater begegne, dann bin ich sein Kind. Das Kind, das von seinem Vater Abschied nimmt. Aber ich tue es auch als Mutter eines Vaters, der zum Kind geworden ist– und dem ich in dieser letzten Phase alles bin, was ihm Frauen in seinem Leben waren – und angetan haben. Meinen Vater hatten sie sehr früh verlassen.
Dass die Mutter in mir meinem Vater mit der gleichen mütterlichen Empfindung begegnen kann, wie ich meinen Kindern begegnet bin, ist eine unerwartete Erfahrung und zeigt mir, dass es Aufgaben, Situationen und Gefühle gibt, auf die uns niemand vorbereiten kann.
Es gibt Brücken, über die wir nur selber und alleine gehen können. Und es gibt Brücken, über die jeder von uns – wir alle – ein erstes Mal und ein letztes Mal gehen müssen.
Brücken, die uns in Landschaften führen, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind.
Die Begleitung meines Vaters auf dem letzten Stück seiner Lebensreise gehört in diese Kategorie. Und ich fühle: Es schließt sich ein Kreis. Was ich von ihm bekam und an meine Kinder weitergab, gebe ich ihm jetzt zurück.
Und habe das Gefühl, dass ich ihn in den Tiefen seiner Träume erreiche. So wie er mich damals erreichte. Als meine Reise begann. In seinen Armen – denn meine Mutter war zu fern.
So wie es anfing, geht es wohl auch zu Ende.