An einem der schönsten Orte Hamburgs steht eines der schönsten Gebäude dieser Stadt. Ein klassizistisches Landhaus an dessen Planung auch der berühmte Baumeister Schinkel beteiligt war und das über die bürgerliche Wohnkultur des 17. und 18. Jahrhunderts informiert. Hier stehen Möbel, die nicht altern dürfen. Eine Klimaanlage sorgt dafür, dass das ganze Jahr über gleichmäßige Temperaturen und die richtige Luftfeuchtigkeit herrschen. Die Herstellung solch kunstvoller Möbel dürfen Tischler heute nur noch selten in Angriff nehmen. Dass solch kunstvolles Handwerk nicht mehr beauftragt wird, gilt auch für andere Bereiche des täglichen Lebens. Handwerkskunst, das hat sich in vielen Köpfen festgesetzt, ist zu teuer. Doch so verständlich diese Einschätzung im 20. Jahrhundert gewesen sein mag, so fatal ist sie im 21igste Jahrhundert. Welch ein Segen wäre es für uns alle, wenn wir unser Denken über den Wert dieser Künste vom Kopf auf die Füße stellen könnten.
Kunst ist heute ein Begriff, der eine unsichtbare Grenze zieht, zwischen dem was wirklich Kunst ist und dem was nicht Kunst ist. Ein Grenzstein, den Experten und Galleristen setzen und der über die Existenz vieler Menschen entscheidet. Bis weit ins 17. Jh. gab es Kunst noch im Plural: wer von „Ars“ sprach meinte „die Künste“ zu denen in der Antike auch die Mathematik oder die Architektur gehörte. Die schönste Definition für diese Künste lautet: „Kunst ist, was Menschen über die Notwendigkeit hinaus der Mühe wert war“. Ein wunderbarer Satz, der uns mitten ins Thema hineinführt. Bleiben wir erst einmal bei der Notwendigkeit. Im Begriff der Notwendigkeit steckt die Not. Notwendig ist, was uns die Not aufzwingt. Dazu gehört das Atmen ebenso, wie Essen, Schlafen, Trinken. So, wie unsere Gesellschaft gegenwärtig organisiert ist, können wir dazu auch die Erwerbsarbeit zählen. Jenseits dieser Welt der Notwendigkeiten, liegt das Reich der Freiheit. Im Reich der Freiheit können wir über selbstbestimmt entscheiden und zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen.
Lassen Sie uns diesen Aspekt der Notwendigkeit zunächst einmal wortwörtlich nehmen und einen Gang durch ein Kunstgewerbemuseum machen. Schauen wir uns die Welt der Dinge aus dieser Perspektive an. Im Tiroler Volkskundemuseum in Innsbruck habe ich lange vor Vitrinen gestanden, in denen nur Holzlöffel ausgestellt waren. Der Holzlöffel ist ein Inbegriff von Notwendigkeit. Wir müssen essen und wir bedienen uns in unserem Kulturkreis des Löffels. Wer keinen Löffel aus Metall besaß, bediente sich eines Holzlöffels. Holzlöffel sind ein Synonym für Lebensweisen, in denen die Notwendigkeiten der Existenz im Vordergrund standen. Mir schien damals, dass alle Löffel, die dort zu sehen waren, im oben beschriebenen Sinne Kunst waren. In diesen Vitrinen war kein Löffel wie der andere. Und an jedem Löffel, auch am schlichtesten, war zu erkennen, dass es denjenigen, die sie hergestellt hatten, der Mühe wert war, sie nach ihrem persönlichen Geschmack und ihrem persönlichen Vermögen zu gestalten. Mit jedem Schritt durch diesen Saal des Museums konnte ich nachvollziehen, wie sich die Künste in Österreichs Bergtälern über die Jahrhunderte entfaltet haben und zu welcher Vielfalt des Könnens es Europas bäuerlichen Kulturen gebracht hatte. Jeder Löffel erzählte eine Geschichte von Männern und Frauen, den die Arbeit an der Schönheit dieses Gebrauchsgegenstandes über die reine Notwendigkeit hinaus der Mühe wert gewesen war. Und wir verstehen auch sofort: Diese Menschen waren auch sich selber dieser Mühe wert. Womit wir beim Begriff des Wertes sind, der uns hilft, unsere Beziehung zu vielen Dimensionen unserer Existenz zu verstehen.
Machen wir einen Zeitsprung. Wie anders sieht unser Alltag in Westeuropa aus. Seit der Industrialisierung, arbeiten wir unermüdlich, angestrengt und sehr erfolgreich daran, immer schneller und müheloser Güter und Dienstleistungen herzustellen. Auf die meisten Artefakte trifft heute zu, dass sie uns kaum Mühe wert sind. Weder bei der Herstellung noch im Gebrauch und schon gar nicht, wenn sie nicht mehr funktionieren. Die Mühe, die für ihre Herstellung erforderlich war, sie steckt in den Maschinen, mit denen sie produziert wurden, oder in der Logistik, deren wichtigstes Ziel es ist, dass irgendjemandem noch mehr Mühe erspart bleibt. Die Mühe, die unsere Vorfahren sich in der Auseinandersetzung mit den physikalischen Gegebenheiten der Welt gaben, ist heute zu theoretischem Wissen geronnen. Sie steckt in den Computern, in den Konstruktionsplänen von Maschinen und Geräten, sie steckt in den Köpfen der Wissensgesellschaft, in den zahllosen Büchern, die in den Bibliotheken dieser Welt stehen. Sie hat sich in Bits und Bites verwandelt und wir können sie an jedem Ort der Welt als virtuelle Dokumente oder bewegte Bilder konsumieren.
Der mühelose Überfluss, den wir Dank des technischen Fortschritts heute erzeugen können, hat nicht nur Menschen überflüssig gemacht sonder auch ihre Fähigkeiten. Das „Prinzip Industrie“ das heute auch den Dienstleistungssektor dominiert – stellt jede menschliche Mühe unter das Vorzeichen der Effizienz, macht sie zu einem Mittel zum Zweck. Gefragt und gut bezahlt wird in einem solchen System nur, was die Herstellung noch schlanker macht. Je weniger Mühe in dem Produkt steckt, desto billiger kann es angeboten werden. Desto weniger muss es uns wert sein, desto weniger eigene Arbeit müssen wir aufbringen, um uns das Objekte anzueignen. Desto einfacher fällt es uns, diese Dinge zu entsorgen und Ersatz zu beschaffen. Immer schneller wurden nach diesem Prinzip seit den 50er Jahren Rohstoffe, Arbeit und Energie verbraucht und in unproduktivem Konsum verwandelt, dessen wichtigste Aufgabe heute nicht mehr der Nutzen ist, den sie stiften, sondern der Arbeitsplätze, den sie erhalten oder schaffen.
Wir müssen, auch aus ökologischen Gründen, diese Entwertungsspirale entschleunigen und in einen Aufwertungsprozess umkehren. Eine Voraussetzung dafür ist, dass wir die Rahmenbedingungen für Arbeit so gestalten, dass am Ende die Forderung Benthams nach dem „größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl“ erfüllt wird. Eine gute Voraussetzung dafür wäre, wenn unsere Arbeitswelt es erlauben würde, dass wir in Freiheit selber entscheiden können, wo wir unsere Fähigkeiten leben wollen oder wirklich gebraucht werden. Dies würde uns die Freiheit zurückgeben uns an dieser Stelle Mühe geben zu dürfen. Weil sie es uns selber wert ist. So ungewöhnlich sich diese Forderung anhören mag, so viel Wahrheit liegt darin über die Natur unseres Menschseins [1] und über unsere Beziehung zu den Dingen.
Sepp Viehauser, ein österreichischer Holzbildhauer und Drechsler, dem ich in den 90er Jahren begegnete, hat mir damals erzählt, dass es gelernt habe, seine Kunst und sein Handwerk nicht gemeinsam auszustellen. Er hatte immer wieder erlebt, dass seine Kunst weniger wert war, wenn er die gedrechselten Objekte daneben stellte. Das Handwerkliche, sagte er, entwertet die Kunst. Ihm selber ging es bei der Arbeit ganz anders. Nicht, dass er seine Bildhauerei nicht liebte. Für ihn gab es ganz einfach keinen Unterschied zwischen der Herstellung von Kunst und der Ausübung seines Drechsler-Handwerks. Beides forderte in Gänze. Die Schalen, die er ausstellte, strahlten die ganze Ruhe und Kon-Zen-tration aus, die ein Drechsler braucht, um mit Hilfe seines kon-zen-trisch rotierenden Werkzeuges Artefakte herzustellen, deren Perfektion daraus erwächst, dass der Drechsler beim Drehvorgang in einem perfekten Gleichgewicht ist. Nur wenn er in seiner Mitte ist, ist es das Zusammenspiel zwischen Maschine und Material auch. Es ist – ähnlich wie das Töpfern – ein Arbeitsvorgang, der dem Material seine Form sehr oft an der Grenze des physikalisch möglichen gibt. Sepp Viehauser hatte es in dieser bemerkenswerten Kunst zur Meisterschaft gebracht, weil es ihm jahrzehntelang der Mühe wert war, sich in dieser Kunst zu üben. Das tat er, denn der Lohn der Arbeit lag für ihn nicht nur das Produkt war, sondern auch die Arbeit selber die er als eine Arbeit am eigenen Selbst beschrieb.
Manch einer mag es für einen sinnlosen Luxus halten, dass Menschen ihr Leben damit verbringen, eine solch „brotlose Kunst“ auszuüben, nur weil die Arbeit selber und das Ergebnis sie glücklich machen und weil sie es lieben, jeden Tag ein wenig besser zu werden. Das hat nur etwas mit dem Thema Geld zu tun. Aus der Perspektive derjenigen, die Ihre Leben damit verbringen es in ihrer Disziplin bis zur Meisterschaft zu bringen, sieht es ganz anders aus. Ich meine sogar, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nur was Menschen jenseits der Dimension des Geldes Tag für Tag tatsächlich der Mühe wert ist, sollte uns in Zukunft selber etwas wert sein. Denn nichts spiegelt den Wert eines Objektes, einer Handlung oder eines Menschen besser wider, als die Mühe, die wir uns mit ihnen geben, weil sie uns jenseits der Notwendigkeit hinaus wertvoll sind.
Noch Anfang der 50er Jahre wurden ein Viertel aller Menschen in Deutschland in der Landwirtschaft benötigt, um uns mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Heute sind es nur noch zwei Prozent. Anfang der 70er Jahre war fast die Hälfte der Berufstätigen in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe notwendig. Heute ist es nur noch ein Viertel. Würden wir die notwendige Arbeit für die Herstellung unseres bedenklichen Überflusses auf alle Erwerbsfähigen Bürgerinnen verteilen, dann würden 25 Wochenstunden genügen. Aber auch das wäre unter den oben beschriebenen Vorzeichen unseres Energie- und Rohstoffverbrauches immer noch zuviel, solange wir nach dem „Prinzip Industrie“ verfahren.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit haben wir Bewohner der Frühindustrialisierten Länder nämlich tatsächlich die Wahl. Unter dem allgegenwärtigen Vorzeichen des Überflusses können den alten Weg weiter gehen und möglichst mühelos Produkte herzustellen, die uns wenig wert sind. Dies erfordert allerdings den Umbau unserer Gesellschaft im Sinne einer Kreislaufwirtschaft. Auch das schafft viele neue industrielle Arbeitsplätze. Aber gerade eine Kreislaufwirtschaft steht unter dem Vorzeichen der Effizienz und sie ist das Gegenteil vom dem was mir als „effektiv“ vorschwebt. Effektiv erscheinen mir nämlich alle Güter, in denen Menschen „verschwenderisch“ mit ihrer Arbeitszeit umgehen, weil ihnen die Arbeit selber und das Produkt der Mühe wert sind.
Wir könnten nämlich auch in diesem Sinne umdenken und einen anderen Weg gehen. Wir könnten mit neuen Maßstäben an die Welt der Arbeit und an die Welt der Produkte herangehen. Wir könnten alles, was wir kaufen, was wir nutzen und was wir selbst tun, aus einer neuen Perspektive betrachten. Wir könnten uns fragen, wie viel Mühe ein Objekt uns selber (im Gebrauch) oder einem anderen Menschen wert ist, und zwar mit dem Ziel, dass wir nur noch solche Produkte herstellen und nur noch solche Dienste leisten die uns oder anderen tatsächlich der Mühe wert sind. Wobei Mühe in diesem Sinne nicht gleichzusetzen ist mit der einfachen Stundenzahl, die gearbeitet wurde, sondern mit der Kunstfertigkeit, die zu erwerben sich jemand die Mühe machte und der Achtsamkeit, mit der die Arbeit ausgeführt wurde. Dann würden wir nicht mehr die Unternehmen belohnen in denen Menschen arbeiten, deren wichtigste Aufgabe es ist, die Talente und Mühe anderer Menschen überflüssig zu machen, indem sie einen mühelosen und ökologisch bedenklichen Überfluss herstellen, der unsere Welt arm macht. Wir würden gute Arbeit belohnen und Unternehmen die Menschen den Freiraum gewähren, den wir für gute Arbeit brauchen. Je konsequenter wir alle uns an diesem Prinzip orientieren würden, desto mehr gute Arbeit und wirklich werthaltige Produkte könnte es in unserer Gesellschaft geben.
Ich persönlich kenne nicht wenige Werkstätten, in denen dies heute schon weitgehend möglich ist und ich möchte deshalb an den Anfang meiner Geschichte zurückkommen. Das Museum im Jenischpark habe ich zu einem Zeitpunkt besucht, zu dem ich mich mit der Situation junger Möbelmacher in Hamburg beschäftigt habe. Deshalb war ich auch für diesen Aspekt besonders sensibilisiert. Mir waren außergewöhnliche Tischlerinnen und Tischler in Hamburg begegnet, die aus Liebe zu ihrer Arbeit viel in Kauf nahmen. Sie hatten profunde Kenntnisse erworben, zum Teil auf der Wanderschaft oder im Ausland. Sie arbeiteten unermüdlich an ihren Techniken und waren niemals mit sich selbst zufrieden. Die Möbel, die sie für wohlhabende Kunden herstellten, waren jedes für sich ein kleines Meisterwerk. Sie hatten es alle schwer mit ihrer Arbeit genug Einnahmen zu erzielen, um die hohen Kosten zu decken, die sie hatten (z.B. die Sozialversicherungsbeiträge), auch wenn sie alle ihre Werkstätten am Stadtrand oder in Hinterhöfen hatten oder sie sich mit anderen Tischlern teilten. Sie haben kein Budget für „Art-Direktoren“ die uns geschickt Werte vortäuschen, die keine sind. Ihre Möbel sind für den Gebrauch gemacht. Sie werden auch in 100 Jahren noch mit Respekt und Liebe behandelt werden, weil sie nicht nur mit dem Alter immer schöner werden, sondern auch unseren Kindern und Kindeskindern noch der Mühe wert sind.